L-Systeme - Pflanzen

Ein praktisches Beispiel

Wir widmen uns nun einigen konkreten Beispielen von jeweils steigender Komplexität.
Das erste Modell betrifft die bereits erwähnten Schachtelhalmgewächse. Das folgende Bild zeigt den Wiesenschachtelhalm in verschiedenen Stadien seiner Entwicklung. Solche Bilder sind äußerst wertvoll für uns, da sie wichtige Hinweise auf die Konstruktionstopologie der Pflanze geben können.

Wiesenschachtelhalm

Bild N° 1: Wiesenschachtelhalm Equisetum arvense

Das Untersuchen von Schachtelhalmen ist für unsere Zwecke sehr einfach, da sie wie aus zusammengesetzten Teilen bestehen. Diese Teile lassen sich gut voneinander abgrenzen und damit zählen. Bild N° 2 zeigt eine grob schematische Darstellung dieser Teile, sowie deren Verbindungsstellen. Man spricht von Internodien und Nodien (amerik. Internode und Node; Node kann etwa mit Knopf übersetzt werden).

Nodien und Internodien

Bild N° 2: Schematischer Schachtelhalm

Eine weitere Tatsache ist, dass sich die Teile (Internodien) der Äste optisch nicht von denen der Hauptachse unterscheiden. Sie wachsen aber deutlich langsamer als diese.
Wir gehen deshalb von der Annahme aus, dass die Konzentration eines uns unbekannten Stoffes in den Teilen der Pflanze für ihr Wachstum maßgeblich ist. Die Verbreitung dieses Stoffes geht vom Wurzelansatz aus, er wandert also von unten nach oben. Auf diesem Weg passiert er maximal zwei unterschiedliche Verbindungen: In jeder Nodie kann ein Molekül des Stoffes entweder "geradeaus" schwimmen oder "abbiegen". Wenn nun die Verbindungswege in die Seitenäste etwas kleiner sind als die Verbindung geradeaus, so ist in den Seitenästen auch weniger dieses Stoffes zu erwarten.
Das folgende parametrische L-System berücksichtigt diese Annahmen. F sind die Internodien, I die Nodien. Der Parameter bestimmt die Zeit, in der ein gewisses Quantum "Stoff" durch die Nodie fließt.

L-System Schachtelhalm

Schachtelhalmmodell

Bild N° 3: Modell für Equisetum Arvense

Katzenschweif
Bild N° 4: Kanadischer Katzenschweif Conyza Canadensis

Ein weiteres Gewächs, für das wir ein Modell erstellen wollen, ist der Kanadische Katzenschweif (auch Kanadisches Berufskraut) Conyza Canadensis (bzw. Erigeron Canadensis) Der Name Erigeron leitet sich vom griechischen Eri = bald und Geron = Greis ab. Das kommt daher, dass die Pflanze nur sehr kurz blüht und sofort weißgraue, haarige Samenbüschel bildet.
"Berufskraut" darum, weil man im Mittelalter vom engen Verwandten, dem Echten Berufskraut (Erigeron Acris) glaubte, es schütze vor zauberischem Berufen. Da die Pflanze ätherische Öle enthält, kann sie als Heilmittel verwendet werden.
Der Kanadische Katzenschweif wurde in der Mitte des 17. Jahrhundert von Nordamerika her eingeschleppt und war bereits Ende des 18. Jahrhunderts in ganz Mitteleuropa verbreitet. Heute findet man ihn hauptsächlich an Straßenrändern, Bahndämmen und in Wiesen, wo er oft als Unkraut bekämpft wird. Die ein- oder zweijährige Pflanze ist sehr widerstandsfähig.
Normalerweise werden die Gewächse nur ertwa 20 – 30 cm hoch. Bild N° 4 zeigt ein Prachtsexemplar, das gute 90cm misst.

Wir haben beobachtet, dass sich das Aussehen der Pflanzen, die nach dem Heuschnitt neu austreiben, stark von dem der "verschonten" Pflanzen unterscheidet. Die geschnittenen Pflanzen sind schütter, dünn belaubt und machen einen unterernährten Eindruck. Ihr Blütenstand ist aber eher ausgeprägter. (Bilder N° 5a und 5b)


nach dem Heuschnitt a nach dem Heuschnitt b

Bild N° 5a) und 5b): Nach dem Heuschnitt

Ähnlich wie beim Schachtelhalm können wir darum davon ausgehen, dass ein Stoff für das Ausbilden der Blätter maßgeblich ist, der entlang der Hauptachse mit weniger Widerstand fließt als von der Haupt- in die Seitenachsen. 
Da die Blütenbildung keineswegs gehemmt ist, muss ein zweiter Stoff, auf den Abzweigungen keinen Einfluss haben, für diese zuständig sein.

Die ersten Kospen bilden sich gewöhnlich zuoberst an der Pflanze. Sie sitzen eng gedrängt in den Blattachseln. An allen weiteren Blättern, die die Pflanze im Folgenden weiter oben produziert, sind die Knospen ebenfalls enthalten. Gleichzeitig beginnen sich in den Blattachseln, die unterhalb der Stelle, an der die ersten Knospen auftraten, ebenfalls Kospen zu bilden; von oben nach unten.

Ab einem gewissen Zeitpunkt wird die Knospenbildung mehr oder weniger gestoppt und an der Spitze der Pflanze erscheinen die ersten Blüten. Der Blütenstand bewegt sich dann langsam nach unten.

Wir haben es also mit drei Ereignissen zu tun: Start der Knospenbildung, Stopp der Knospenbildung und Start der Blüte. Diese Ereignisse treten zwar überall an der Pflanze im dieser Reihenfolge auf, aber nicht unbedingt zum selben Zeitpunkt. Es liegt daher nahe, mit einem Signal zu arbeiten.

Hypothese: Ein leicht blattbildungshemmender Stoff wird an der Basis der Pflanze zu einem gewissen Zeitpunkt freigesetzt und wandert nach oben. Trifft er auf die Spitze, so regt er diese an, ebenfalls einen Stoff freizusetzen, der die Knospenbildung anregt. Dieser wandert zusammen mit der Spitze nach oben, sowie der Hauptachse entlang nach unten. Gelangt er bis zu unterst, so setzt wiederum die Basis einen Stoff frei, der relativ schnell nach oben wandert, die Knospenbildung stoppt und die Spitze zur Blütenbildung veranlasst. Jede Blüte setzt dann Stoffe frei, die ihre Nachbarknospen dazu bewegen sich ebenfalls zu öffnen.

Dieser doch recht komplexe Vorgang lässt sich mit folgendem (imposanten) Kontext sensitiven L-System beschreiben:
L-System zum Katzenschweif
L-System zum Katzenschweif

Wir interpretieren

E,P,O,R,S,T,K,V,X Als grüne Zylinder. (Internodien)
B Als skalierten, olivfarbigen Würfel. (Blatt)
F Als dunkelbraune kleine Kugel. (Wachtumsknospe)
U Als grüne kleine Kugel. (Knospen)
V Als weiße große Kugel (Blüte)
/ \ Neigungswinkel α = 43°
- + Divergenzwinkel ρ = 135°

Die nachstehende 3D-Grafik zeigt das Ergebnis, das dem Original recht gut entspricht:

Modell Katzenschweif

Bild N° 6: Modell für Conyza Canadensis

Einer in vielerlei Hinsicht interessanten Pflanze gilt unser drittes und letztes Modell: dem Stachellattich (Lactuca serriola). Er gedeiht, wie auch der kanadische Katzenschweif mit Vorliebe an eher trockenen sonnigen Stellen, oft an Wegen und Straßenrändern.
Ebenfalls ist er sehr widerstandsfähig gegenüber Umwelteinflüssen und Pflanzenvernichtungsmitteln. Der Stachellattich reagiert gezielt auf die ihn umgebenden Ereignisse, was seine Formenvielfalt erklärt.

Stachellattich
Bild N° 7: Stachellattich (Lactuca serriola)

Aus biologischer Sicht ist der recht stark ausgeprägte Phototropismus der Blätter bemerkenswert. Bei freier Entfaltung stellt der Stachellattich seine Blätter senkrecht auf und dreht sie in Nord-Süd Richtung. So trifft die heiße Mittagssonne nur auf die Blattkanten und die Blattflächen können das gemäßigtere Licht des Vor- und Nachmittags nutzen. Damit wird einer übermäßigen Flüssigkeitsverdunstung vorgebeugt.

Eine weitere interessante Eigenschaft des Stachellattichs ist, dass die Anzahl der Internodien der untersten und zweituntersten Nebenachse genau die Hälfte der Internodien der Hauptachse beträgt. Die Anzahl Internodien der dritt- und viertuntersten Nebenachse ist um eins kleiner.
Bei einer untersuchten Pflanze bestand die Hauptachse aus 44 Teilen. Die beiden untersten Nebenachsen aus je 22 Teilen. Die dritt- und viertunterste aus je 21 Teilen, die fünft- und sechstunterste aus je 20...
Auch an der Spitze der Pflanze gilt dieses Prinzip: Die obersten beiden Seitenachsen bestehen meist aus einer Internodie, die dritte und vierte Seitenschse aus 2 Internodien etc...
Nur in der Mitte gilt dieses Prinzip nicht, wie auf dem Bild N° 7 unschwer zu erkennen ist.

Der Grund dafür ist, dass der Stachellattich seine Nebenachsen nicht etwa alle auf einmal bildet, sondern etwa zur gleichen Zeit an der Spitze und an der Basis damit anfängt und dann immer mehr gegen die Mitte rückt. Die Anzahl der Elemente, die in einer gewissen Zeitspanne an den oberen und an den unteren Nebenachsen ausgebildet werden, ist annähernd gleich. Oft kann man aber beobachten, dass die Entwicklung an der Spitze der der Basis um eine Kleinigkeit voraus ist.

Blätter bildet der Stachellattich nur bis etwa zur Mitte der Hauptachse und an den untersten Nebenachsen zu einer nennenswerten Größe aus. Die Blättchen in den oberen Teilen erscheinen recht kümmerlich. In einem gelungenen Foto ist der Wachstumsverlauf der Pflanze vom Anfang bis zu den ersten Nebenachsen dargestellt (Bild N° 8).

Stachellattich Wachstumsstadien

Bild N° 8: Wachstumsstadien

Beim kanadischen Katzenschweif hatten die Verhaltensänderungen der Pflanze, wie etwa Knospen- und Blütenbildung stets eine Richtung: Die ersten Blüten traten zuoberst auf und der Blütenstand bewegte sich langsam nach unten. Hier ist das nicht mehr der Fall: Das Bilden der Seitenachsen beginnt am oberen und am unteren Ende des Gewächses und es ist keine klare Richtung zu erkennen. Wir nehmen deshalb an, dass ein außenstehender Reiz die Pflanze dazu veranlasst, mit der Bildung der Seitenachsen zu beginnen. Das erklärt auch die leichte Tendenz dazu, dass sich die Spitze etwas schneller entwickelt als die Basis: Oben kommt mehr Licht und damit mehr Wärme an die Pflanze, vor allem dann, wenn mehrere Pflanzen dicht beieinander stehen.

Hypothese: Zunächst wächst die Pflanze geradlinig in die Höhe. Ein Stoff bestimmt wie gehabt die Größe der Blätter, wobei der Widerstand diesmal recht hoch zu wählen ist. An jeder Nodie staut sich ein Stoff, dessen Konzentration mit jedem Zeitschritt zunimmt. An einem gewissen Zeitpunkt tritt ein Umweltereignis ein (das wahrscheinlich mit der Temperatur zusammenhängt). Dieses Ereignis veranlasst alle Nodien dazu Nebenachsen zu bilden, deren Länge der Konzentration des gestauten Stoffes entspricht. Der Stoff fließt dann in die Nebenachsen ab. Allerdings hemmen sich zwei nebeneinanderliegende Nodien bei der Ausbildung der Nebenachsen in einem Maße, dass nur jene Nodien die Nebenachsen wirklich bilden können, die nur eine "stoffgeladene" Nodie als Nachbar haben. So bewegt sich die Entwicklung von den Extremitäten gegen die Mitte.

Das L-System zu dieser Hypothese ist:

L-System Stachellattich

Und die dazugehörige Interpretation:

E, G und H sind Internodien, also Zylinder. F ist die Wachstumsknospe. B das Blatt, und U ein Spezialobjekt, das die Blüte darstellt.
Auch hier entspricht unser Resultat durchaus der Realität.

Modell Stachellattich

Bild N° 9: Modell für Lactuca Serriola